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Verkaufsschlager Biotensegrität?

Maren Diehl • 18. Februar 2023
Das Pferd in seiner Welt

Heute möchte ich euch beschreiben, was für mich am Erklärungsmodell Biotensegrität so faszinierend und weltbewegend ist und woran ihr Phrasenreiter erkennt, die den Begriff regelrecht für ihre Zwecke gekapert haben. Letzteres geschieht gerade verstärkt, teilweise aus Kurzdenkigkeit, in größerem Rahmen aber auch sehr bewusst.


Warum ich darüber schreibe, anstatt geflissentlich zu ignorieren? Weil die Beschäftigung mit Biotensegrität, das Ausprobieren und das Erleben, eine völlig neue Welt eröffnen, in der es viel mehr Möglichkeiten gibt, als die Perspektive der orthodoxen hebelbasierten Biomechanik vermuten lässt. Weil die Biotensegrität beschreibt, wie ein gesundes, aktives Lebewesen sich effizient und verschleißfrei bewegen kann. Weil genau dieses Bewegen als solches gesunderhaltend und heilend wirkt.


Es ist so schön, immer wieder die Berichte von erstaunten Menschen zu lesen, deren Pferde plötzlich umschalten, Bewegungsfreude entwickeln und sagen: "Ja, klar, prima. Machen wir so." Dabei ist nicht viel mehr passiert, als dass Mensch das Verhalten tensegraler Strukturen anhand eines Modells gefühlt und sich gedanklich damit beschäftigt hat, wie tensegrale Systeme funktionieren und vor allem mit der Umwelt interagieren.


Hier kommen wir an den Punkt "Missbrauch", was sich sowohl auf den Begriff Biotensegrität als auch auf die Arbeit mit und die Therapie an Pferden bezieht. Wer Tensegrität und Biotensegrität gerade so weit verstanden hat, dass er oder sie den Bewegungsapparat des Pferdes in (gegenüber den biomechanisch begründeten Methoden leicht modifizierter Weise) manipuliert, befindet sich auf einem wenig zielführenden Weg. Der Fokus auf bestimmte Körperpartien und die Körperhaltung steht einem tiefergehenden Verständnis im Wege.


Es gibt übrigens im eigentlichen Sinne kein biotensegrales Training, weil alles, was ein Mensch oder ein Pferd macht oder unterlässt, das biotensegrale System in irgendeiner Weise "trainiert".


Wenn dann auch noch massive Manipulationen wie Überstellung zu "Dehnungszwecken" oder zur "Balanceverbesserung" stattfinden, dann hat sich für das Pferd gegenüber herkömmlichen restriktiven Trainingsmethoden absolut nichts verbessert. Daran ändern auch schönste Worte und blumige Versprechen nichts. Natürlich lässt sich auch dieses Vorgehen mit dem Erklärungsmodell Biotensegrität beschreiben, aber das tensegrale Potenzial eines Pferdes entwickelt sich dadurch nicht.


Das Gleiche gilt für das schwerpunktmäßig in verkürzten Gängen oder in Übertempo stattfindende Training, für formgebende Einwirkung, für sämtliche Extreme in Flexion und Extension, in Aufrichtung und Tiefe.


"Biotensegrity explains why whatever works, works and why things that don't work don't work."  Damit beschreibt Susan Lowell de Solorzano den Wert des Erklärungsmodells.


Biotensegrität erklärt also, was in den Strukturen geschieht. Aber sie erklärt bei eingehender Betrachtung auch, was warum der Ausbildung eines gesunden, belastbaren, weitgehend unkaputtbaren Reitpferdes entgegenwirkt.


Aber woher kommt denn dann der Erfolg verschiedener Trainings- und Therapieansätze?


Genaugenommen haben wir verschiedene Extreme im Angebot.  Wenn jetzt in einer Region die Pferde im einen Extrem plattgearbeitet wurden, wirkt eine Therapie, die mit dem entgegengesetzten Extrem arbeitet, zunächst Wunder, weil die überbeanspruchten Strukturen sich erholen können. Das geht dann so lange gut, bis die im neuen Extrem geforderten Strukturen aufgeben. In der Zwischenzeit lassen sich aber Erfolge vorzeigen. Langfristig ist ein anderes Extrem auch nur ein Extrem.


Interessanterweise funktioniert die Wirbelsäule eines Pferdes weder in Extension noch in Flexion auf Dauer (!) besonders gut. Der ganze Pferdekörper entwickelt sich im ständigen Spiel zwischen den verschiedenen Extremen, auf der großen Spielwiese der Übergänge. Die Grund"haltung" darf eine ganz normale sein, sie zeichnet sich durch die Abwesenheit von Alleinstellungsmerkmalen aus. Es geht ja nicht um die Haltung, sondern um die Bewegungs- und Problemlösungskompetenz.


Biotensegrität sagt nichts über Haltungen und Therapien aus. Biotensegrität beschreibt, wie ein lebendiger Körper sich in der Interaktion mit der Umwelt verhält, welche Eigenschaften und Möglichkeiten er hat. Und wie Eingangs bereits erwähnt, ist das tensegrale Potenzial eines Lebewesens und insbesondere das eines Pferdes absolut erstaunlich und entwickelnswert.


Die Frage, wie sich denn dieses Potenzial entwickeln lässt, führt zu völlig anderen Ergebnissen als der Versuch, ein Pferd in einer bestimmten Haltung zu arbeiten oder es zu reparieren.


Da sich inzwischen einige Leute auf meine Arbeit und mein Buch beziehen, möchte ich mich ganz klar von all denen distanzieren, die Biotensegrität benutzen, um manipulative Methoden und die Arbeit in Extremen zu begründen.


Das Gleiche gilt übrigens für alle, die ein schwammiges Sowohl-als-auch verkaufen und ganz souverän mit unterschiedlichen Begründungen "Biomechanik und Biotensegrität kombinieren". Auch auf diesem Weg wird sich nicht erschließen, was letztlich das tensegrale Potenzial eines Pferdes ausmacht.


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Wo liegt eigentlich euer Fokus, wenn ihr mit eurem Pferd zusammen seid oder mit einem Klientenpferd? Wie sieht euer Weg mit diesem Pferd aus? 

Habt ihr ein Bild davon, wie euer Pferd oder dieses Klientenpferd als starkes, gesundes und belastbares Pferd aussehen würde? Habt ihr eine Vorstellung von den Potenzialen eures Pferdes? Wisst ihr, was es leisten könnte und wollte? 

Ein sehr großer Teil der Pferde, die ich sehe, ist dauerhaft in Behandlung oder Reha, kaum belastbar, und es haben sich ganze Ausbildungssysteme für kleinschrittige Bewegungsoptimierung entwickelt. Diese werden inzwischen leider auch auf die Ausbildung junger Pferde angewandt, die als erstes lernen müssen, so zu laufen wie das kaputte Rehapferd, das keinen Schritt neben der Spur machen darf. 

Ein kleiner Teil der Reiter und Pferde hat das Zeug für den großen Sport, wobei die meisten dieser Pferde ihr Niveau nur durch intensive Betreuung und Behandlung eine Zeit lang halten können. Das sind also nicht zwangsläufig die belastbarsten Pferde, sondern eher die besttherapierten. 

Bei den ehrgeizigen Reiter*innen kommt es darauf an, korrekte Hilfen zu geben, die vom Pferd ebenso korrekt befolgt werden müsse. Die Ausbildungsskala beginnt mit Seitengängen und der hohen Schule... Die meisten von ihnen bleiben irgendwann stecken, es geht nicht weiter, der Gaul will nicht mehr und wird krank. Womit diese Gruppe eine große Schnittmenge mit den anderen beiden Gruppen aufweist. 

Es gibt sicher noch viele weitere Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie diese Schnittmengen mit den oben genannten haben. 

Eine sehr eigene Gruppe mit wenigen Schnittmengen ist die der gesunden und belastbaren Pferde. Anstatt nun weiter die Abstrusitäten zu betrachten, schauen wir doch einfach mal, wodurch sich diese Gruppe auszeichnet: 

Diese Pferde bewegen sich viel im Gelände, auf unterschiedlichen Untergründen und können sich in allen Gangarten bergauf und bergab bewegen. Sie stolpern selten, haben eine gute und unempfindlich Sattellage und tragen ihre Reiter*innen sicher. Sie sind in der Lage, Geländehindernisse wie Gräben und Baumstämme, Bäche und Hänge zu überwinden. Notfalls kommen sie auch auf dem Reitplatz klar... 

Diese Pferde sind ausdauernd, belastbar, meistens recht zuverlässig, unternehmungsfreudig und vor allem selten krank. Sie sind irgendwie normal. 

Es ist ein Trugschluss, dass die Pferde das können, weil sie gesund sind. Sie sind gesund, weil sie das können und weil sie ihren eigenen Aufgabenbereich haben. 

Es gibt einen gangbaren Weg dorthin.

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