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Gegensätzliche Grundannahmen

Maren Diehl • 17. April 2022
Die Paradigmen

In meinem letzten Beitrag hatte ich geschrieben, dass zwei Personen, die sich intensiv mit einem Thema beschäftigen, trotzdem zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen können. Diese Folgerungen entstehen auf der gleichen oder zumindest einer ähnlichen Faktenbasis. Ähnlich deshalb, weil in den seltensten Fällen zwei Menschen haargenau die gleichen Informationen zur Verfügung haben. Sollte dem doch so sein, läge durch das individuelle Interesse und die eigene Fragestellung dennoch der Fokus in einem etwas anderen Bereich.


Hier kommen jetzt die zugrundeliegenden Annahmen ins Spiel, die Paradigmen. Es haben also zwei Menschen unabhängig voneinander für sich entschieden, dass die orthodoxe hebelbasierte Biomechanik als Grundannahme für "so also funktioniert ein Pferd" ausgedient hat und Biotensegrität das stimmigere Modell mit den widerspruchsärmeren Erklärungen ist. 


Für mich war damals die Faszienforschung von Robert Schleip der Einstieg, denn irgendwo in seinem Buch und auch in "Anatomy Trains" von Tom Myers kam das Wort Biotensegrity vor. Da das irgendwie wichtig sein musste, habe ich ein persönliches Tagesseminar mit Daniele-Claude Martin verbracht, sehr viel von Graham Scarr und Steve Levin gelesen und Modelle gebaut. Es war faszinierend, alles aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten!


Gleichzeitig hatte ich die wertvolle Gelegenheit, mich mit Steve und Graham per E-Mail auszutauschen und wurde zuverlässig zurück ins Labor geschickt, wenn ich mich verschwurbelt hatte. In dieser Zeit entstand mein Buch "Jenseits der Biomechanik - Biotensegrity". Soviel zur groben Übersicht. 


Woher kommen nun aber die Unterschiede in den Schlussfolgerungen? 


Es gibt noch mehr Grundannahmen, die sich sehr deutlich von einander unterscheiden können. Diese Grundannahmen gehören zum Teil längst zum "Allgemeinwissen", sind aber austauschbar. 


Zwei der wichtigsten gegensätzlichen Grundannahmen sind beispielsweise:

• "Die schwache Vorhand muss entlastet werden, damit sie nicht kaputt geht." und

• "Die Vorhand ist zum Tragen gemacht."


oder:

• "Die Schubkraft macht das Pferd kaputt." vs

• "Ohne Schubkraft geht es nicht."


Je nachdem, wie Schubkraft definiert ist, kann alles stimmen oder auch nicht. Ob die Vorhand stark sein kann, hängt vom Bewegungsmuster ab. Deshalb ist eine Diskussion an diesem Punkt unmöglich. Wenn Austausch gelingen soll, müssen alle Beteiligten zuerst gemeinsam Definitionen schärfen. Was genau beschreibt das Wort Schubkraft für die Diskutierenden? Was glauben sie, wie die Vorhand funktioniert?


Die erste Rohform der Definition von Schubkraft ist bei genauer Betrachtung meistens ebenso schwammig wie die der Funktionsweise der Vorhand. Wer diese Punkte für sich nicht klärt, kann vielleicht intuitiv das für das Pferd Hilfreiche tun, sich aber nicht zielführend austauschen. Austausch hilft dabei, die eigenen Ideen und Erklärungen zu überprüfen und blinde Flecken zu bemerken. Austausch zeigt, ob eine Erklärung beim Gegenüber das gleiche Bild erzeugt. Austausch zwingt dazu, klar zu formulieren.  


Die Definitionen beruhen einerseits auf den physikalischen Gegebenheiten, mit denen sich ein Körper auseinandersetzen muss, und andererseits auf den Möglichkeiten der Anatomie. Persönliche Erfahrungswerte können hier sowohl hilfreich als auch hinderlich sein. 


Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Gefahr des sich Verschwurbelns ohne Austausch und gelegentlichen Dissens groß ist, da Biotensegrität sehr komplex ist und das Gefühl von Raumeinnehmen und Fluffigkeit dazu verleitet, blumig an den physikalischen Grundlagen vorbei zu beschreiben. 


Ich glaube, dass wir noch sehr viel Arbeit vor uns haben, wenn der Paradigmenwechsel in der Pferdewelt gelingen soll. Dazu bedarf es tiefgehenden Austausches und hoher Veränderungsbereitschaft. Es ist anstrengend, sich die physikalischen Grundlagen zu erarbeiten und wirklich zuende zu denken, wie das alles mit der Anatomie eines Pferdes zusammenpasst. Es ist sehr schwer, liebgewonnene Ansichten aufzugeben und Grundannahmen zu verändern. 


Es gibt diese Tendenz, sich von etwas Neuem ein Bröckchen zu schnappen, damit flugs nach Hause zu flitzen und daraus ein eigenes lukratives Süppchen zu kochen. Das war beim Thema Faszien ebenso. Leider bringt das das Ganze nicht voran, denn dieses wächst im Austausch. Ich denke, es sollte beides möglich sein: Die eigene Arbeit weiterzuentwickeln und gemeinsam mit anderen Pferdemenschen in das Thema Biotensegrität einzutauchen, um allgemeingültige Definitionen zu formulieren, die sowohl der Physik als auch dem Bewegungsverständnis gerecht werden.


Dennoch besteht Hoffnung, dass ein solcher Austausch gelingen wird, denn mit den Biotensegrity Pioneers beispielsweise sind ja bereits einige wissensdurstige und experimentierfreudige Forschende gemeinsam unterwegs.


Ich wünsche euch ein schönes Osterwochenende!

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Wo liegt eigentlich euer Fokus, wenn ihr mit eurem Pferd zusammen seid oder mit einem Klientenpferd? Wie sieht euer Weg mit diesem Pferd aus? 

Habt ihr ein Bild davon, wie euer Pferd oder dieses Klientenpferd als starkes, gesundes und belastbares Pferd aussehen würde? Habt ihr eine Vorstellung von den Potenzialen eures Pferdes? Wisst ihr, was es leisten könnte und wollte? 

Ein sehr großer Teil der Pferde, die ich sehe, ist dauerhaft in Behandlung oder Reha, kaum belastbar, und es haben sich ganze Ausbildungssysteme für kleinschrittige Bewegungsoptimierung entwickelt. Diese werden inzwischen leider auch auf die Ausbildung junger Pferde angewandt, die als erstes lernen müssen, so zu laufen wie das kaputte Rehapferd, das keinen Schritt neben der Spur machen darf. 

Ein kleiner Teil der Reiter und Pferde hat das Zeug für den großen Sport, wobei die meisten dieser Pferde ihr Niveau nur durch intensive Betreuung und Behandlung eine Zeit lang halten können. Das sind also nicht zwangsläufig die belastbarsten Pferde, sondern eher die besttherapierten. 

Bei den ehrgeizigen Reiter*innen kommt es darauf an, korrekte Hilfen zu geben, die vom Pferd ebenso korrekt befolgt werden müsse. Die Ausbildungsskala beginnt mit Seitengängen und der hohen Schule... Die meisten von ihnen bleiben irgendwann stecken, es geht nicht weiter, der Gaul will nicht mehr und wird krank. Womit diese Gruppe eine große Schnittmenge mit den anderen beiden Gruppen aufweist. 

Es gibt sicher noch viele weitere Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie diese Schnittmengen mit den oben genannten haben. 

Eine sehr eigene Gruppe mit wenigen Schnittmengen ist die der gesunden und belastbaren Pferde. Anstatt nun weiter die Abstrusitäten zu betrachten, schauen wir doch einfach mal, wodurch sich diese Gruppe auszeichnet: 

Diese Pferde bewegen sich viel im Gelände, auf unterschiedlichen Untergründen und können sich in allen Gangarten bergauf und bergab bewegen. Sie stolpern selten, haben eine gute und unempfindlich Sattellage und tragen ihre Reiter*innen sicher. Sie sind in der Lage, Geländehindernisse wie Gräben und Baumstämme, Bäche und Hänge zu überwinden. Notfalls kommen sie auch auf dem Reitplatz klar... 

Diese Pferde sind ausdauernd, belastbar, meistens recht zuverlässig, unternehmungsfreudig und vor allem selten krank. Sie sind irgendwie normal. 

Es ist ein Trugschluss, dass die Pferde das können, weil sie gesund sind. Sie sind gesund, weil sie das können und weil sie ihren eigenen Aufgabenbereich haben. 

Es gibt einen gangbaren Weg dorthin.

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