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Flugunterricht für Vögel?

Bettina Klingmüller • 9. März 2024
Murgi Mo

Kürzlich stolperte ich über ein Online-Angebot zur Exterieurbeurteilung. Hier wurde mit Hilfe mehrerer Videos erklärt, was man unter der Oberlinie versteht, wie man die Oberlinie seines Pferdes beurteilen, „bewerten“ und analysieren kann, was ihre Entwicklung stört oder gar behindert und was man tun kann, um sie zu verbessern. Als Hausaufgabe konnten alle Teilnehmer:Innen Fotos ihrer Pferde einstellen, deren Oberlinie kritisch betrachten und andere Teilnehmer:Innen konnten kommentieren.

Prima. Mein Murgi ist jetzt schon eine Weile soweit, dass man ihn getrost als eingeritten bezeichnen kann. Warum nicht mal hören, was andere zu der Entwicklung sagen.
Dachte ich. Und meldete uns an.

Die Oberlinie geht vom Schweif bis zu den Ohren, wurde erklärt. Sie sollte keine Löcher (z.B. hinterm Schulterblatt oder auf der Kruppe oder vor der Schulter) und Kanten (z.B. am lumbosakralen Übergang oder am Widerrist) haben. Ok, damit bin ich einig.

Einige Pferde mit nicht ganz harmonischer Oberlinie dienten als Anschauungsobjekte und wurden besprochen.
“Durch einen harmonischen Übergang von Lendenwirbelsäule zum Becken übertragen sich die Kräfte der Hinterhand gut auf die Wirbelsäule.“ Wurde erläutert.
“Wenn die Rückenlinie vom Widerrist stark abfällt und dann wieder ansteigt zur Kruppe hin, dann ist die Lendenwirbelsäule der schwierige Bereich des Exterieurs. Wenn der Rücken so gebaut ist, dass er vom Becken abfällt und zum Widerrist ansteigt, dann neigen die Pferde dazu den Rücken beim Reiten durchhängen zu lassen. Dadurch atrophiert die Lendenmuskulatur, das Becken dreht sich in die falsche Richtung. Wenn die Lendenwirbelsäule hängt und atrophiert, dann wird das Pferd auch nicht den Widerrist heben und auch die Muskeln vor dem Widerrist auf Dauer nicht einsetzen. Hier muss man die Hinterbeine gut heran schliessen. Man muss auch aufpassen dass man sich nicht zu schwer hinsetzt und man muss immer wieder dem Rücken Platz machen nach oben. Wenn man sich schwer auf die Gesäßknochen setzt, drückt man den Rücken nach unten, und dann dreht es die Kruppe noch mehr in die falsche Richtungen, die Hinterbeine bleiben heraus. Wenn man das Aufwölben des Rückens verhindert, dann verhindert man auch, dass die Hinterbeine untertreten und man verhindert, dass das Becken kippt. Einerseits muss man mit dem Schenkel die Hinterbeine auffordern unterzutreten, andererseits muss man mit dem Sitz Platz machen…“

Aha? Das klingt mir wie: Wenn die Form nicht stimmt, geht die Kraft nicht richtig durch. Vielleicht eine unglückliche Formulierung? Ich habe gelernt und erfahren, dass die Funktion die Form macht. Form follows function.
Umso gespannter war ich darauf, wie andere unsere Oberlinie beurteilen würden.

Also erste Fotos eingestellt mit der Anmerkung:
“Er ist drejährig zu mir gekommen. Seither ist er deutlich mehr Pferd geworden. Von der Muskulatur her wirkt er voller. Der Widerrist war mit drei so wenig ausgeprägt dass der Tierarzt bei der Ankaufsuntersuchung eine schwierige Sattellage anmerkte. Beim Galopp-Bild ist vorne mein Connemara Pony Opa mit deutlich eckigerer Oberlinie. Anfangs waren sie sehr ähnlich von der Größe.”

Kommentiert wurde ausschliesslich positiv.
“Sehr schönes Pferd!"  “Mir gefällt das Exterieur super." “Ich finde ihn auch sehr harmonisch, ein wirklich schönes Pferd."

Als nächste Hausaufgabe sollten wir Rückschlüsse aus der Oberlinie ziehen. Mein Fazit:
„Aus Longleg (Weberknecht) Mo ist ein recht properes Pferdchen geworden. Mein Eindruck ist, er füllt sich ganz gut aus. Er ist nicht überbaut, die Oberlinie scheint mir recht harmonisch, die Kruppe ist rund, der lumbosakrale Übergang weder eckig noch kantig, und die obere Halslinie ist leicht gewölbt. Vielleicht erkennt jemand anderes die ein oder andere Baustelle? Wie kann ich ihn weiter fördern?“
Die Reaktionen waren wieder ausschliesslich positiv (was mich ja freut). „Ich finde, sieht super aus“ „Also.. ich sehe nur Gutes.“ „Ich finde die Oberlinie auch sehr harmonisch.“
Keinerlei negative Kritik und auch kein Vorschlag von der Kursleitung, was wir denn nun verbessern könnten.

Im Folgenden wurde erklärt, dass die Oberlinie vor allem durch typische Reiterfehler in ihrer Entwicklung behindert wird.  
Aha, dachte ich, dann kann es ja nicht so schlecht gewesen sein, was wir bisher gemacht haben, obwohl ich nicht glaube, bereits an der oberen Messlatte für reiterliche Fertigkeiten angelangt zu sein. Bei Weitem nicht!

Der nächste Abend brachte den Schlüssel zur Verbesserung der Topline:
Zuerst Bodenarbeit, weil dann das Reitergewicht wegen der Schwerkraft den Rücken nicht runter drückt. Der Rücken wird beschützt durch die Hinterbeine, die untertreten und sich beugen. Wenn die Hinterbeine hinten raus sind, von Natur aus, dann ist das schwierig für den Reiter die Hinterbeine zu engagieren und zu beugen. Dann entsteht unter dem Bauch eine Lücke und die wird dann gefüllt durch den Bauch, dann hängt der Bauch durch, die Oberlinie hängt durch, die Kruppe geht hoch. Das Becken dreht in die falsche Richtung … Das untertretende Hinterbein stützt den Rücken, wenn es auftritt gibt es dem Körper einen gewissen Auftrieb, es hebt den Rücken und den Widerrist hoch. D.h., wenn ich ich das richtig verstanden habe: Hinterbeine untertreten lassen und beugen und das Becken kippen ist die Lösung und wird erst am Boden geübt.

Nächste Hausaufgabe: Bodenarbeit präsentieren, die wir bisher gemacht haben.
Hm, dachte ich. Bodenarbeit haben wir schon gemacht. Aber, wie soll ich sagen? Anders:

„Hm, ich habe den Murgi als Handpferd ins Gelände mitgenommen und dann dort den Übergang zum Reiten eingeleitet. Gelände kannte er schon, das Laufen mit anderen Pferden auch. Und Tragen üben kann man am Besten beim Tragen. Finde ich. Handarbeit war für mich eher eine Sache für das Ausprobieren von speziellem Gelände wie dem Überqueren einer Brücke oder dem Bewältigen von mir schwierig erscheinenden Geländeformationen in unterschiedlichen Gangarten. Weil ich manchmal eine Memme bin, sollte der Murgi das erstmal ohne mich üben. D.h. wir longieren eher dreidimensional und durch Verhack und Verhau.“

Das gab 22 Likes. Und einen Kommentar, ich hätte den Abend gerettet. Ich gebe es zu, dieser Kommentar hat mir gefallen.

Ich wundere mich nun aber darüber, wie es sein kann, dass es so gar keine Verbesserungsvorschläge gibt, wo ich doch nichts von dem gemacht habe, was empfohlen wurde. Das, was empfohlen wurde, erinnert mich sehr an die Flugschule für Vögel, die Nassim Nicholas Taleb in seinem Buch "Antifragilität" beschreibt:

Beim Flugunterricht für Vögel bringen würdevolle Herren aus Harvard Vögeln das Fliegen bei. Männer über 60 in Anzügen kommen ihrer Aufgabe in einer mit Fachbegriffen gespickten Sprache nach, streuen hier und da eine mathematische Gleichung ein. Und siehe da: Der Vogel fliegt.
Was für ein schöner Erfolg!
Sie verfassen Bücher und Artikel. Der Vogel hat ihrer Anweisung Folge geleistet.
Die Schlussfolgerung: Die Abteilung für Ornithologie der Universität ist unverzichtbar für den Vogelflug.

Es wird gerne angenommen, Wissensvermittlung wäre ein linearer Vorgang. Grundlagenforschung erzeugt theoretisches Wissen, welches Techniken erzeugt, die dann zu praktischen Anwendungen führen, was zum Erfolg führt.

So skizziert wirkt es lächerlich, aber bezogen auf die Reiterwelt ist es ein weit verbreitetes Muster. So gibt es doch unzählige biomechanische Anleitungen und Erklärungen, die genau zeigen, welcher Muskel durch welche Übung zu trainieren ist, um dem Pferd beizubringen, seinen Körper besser zu gebrauchen. Leider sind die gewünschten angestrebten Ergebnisse, wie beispielsweise eine harmonische Oberlinie, aber eher selten zu sehen.

So wurde im Online-Kurs zum Beispiel erklärt, dass sich Muskulatur bei falschem Training oder durch Reiterfehler sehr schnell abbaut. Die richtige Muskulatur hingegen braucht Wochen bis Monate, bis sie sich aufbaut. Eine Teilnehmerin beklagte das und wurde darauf hingewiesen, vielleicht mehr Pausen machen zu müssen. Ich dachte immer, Muskulatur baut sich auf, wenn sie benutzt wird. Wenn sie an manchen Stellen fehlt, dann wird sie dort wohl nicht gebraucht. Dann ist vielleicht der Aufbau und das Training nicht geeignet um, nicht nur, aber auch, diese Muskulatur anzusprechen. Zumal das empfohlene Training nichts beinhaltete, wonach man eine Pause einlegen müsste.

Unser Weg war tatsächlich ein anderer. Wir haben ausprobiert, versucht, Fehler gemacht, geübt und uns verbessert mit dem Ziel, unser tensegrales Potential zu entfalten. Auf unebenem Boden, auf verschiedenen Untergründen, bergauf und bergab, alleine und in Gesellschaft mit anderen. Mit einem Pferd, das an den Zügel zieht und Druck mit Gegendruck beantwortet. Was herausgekommen ist, gefällt mir (und wohl auch anderen) ganz gut und ich werde dieses Konzept beibehalten.


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Und das freut mich sehr, denn Bess hat in ihrem langen Reiterleben schon viele Konzepte nicht nur ausprobiert, sondern sehr konsequent befolgt. Mit dem Ergebnis “je mehr ich übe, umso schlechter wird es”. Vor ein paar Jahren hat sie sich dafür entschieden, ihr Jungpferd im Rahmen meines damaligen Online-Coachings anzureiten und konsequent alles weggelassen, was bis dahin nicht funktioniert hatte. Das Ergebnis gefällt auch mir sehr gut.
 

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Wo liegt eigentlich euer Fokus, wenn ihr mit eurem Pferd zusammen seid oder mit einem Klientenpferd? Wie sieht euer Weg mit diesem Pferd aus? 

Habt ihr ein Bild davon, wie euer Pferd oder dieses Klientenpferd als starkes, gesundes und belastbares Pferd aussehen würde? Habt ihr eine Vorstellung von den Potenzialen eures Pferdes? Wisst ihr, was es leisten könnte und wollte? 

Ein sehr großer Teil der Pferde, die ich sehe, ist dauerhaft in Behandlung oder Reha, kaum belastbar, und es haben sich ganze Ausbildungssysteme für kleinschrittige Bewegungsoptimierung entwickelt. Diese werden inzwischen leider auch auf die Ausbildung junger Pferde angewandt, die als erstes lernen müssen, so zu laufen wie das kaputte Rehapferd, das keinen Schritt neben der Spur machen darf. 

Ein kleiner Teil der Reiter und Pferde hat das Zeug für den großen Sport, wobei die meisten dieser Pferde ihr Niveau nur durch intensive Betreuung und Behandlung eine Zeit lang halten können. Das sind also nicht zwangsläufig die belastbarsten Pferde, sondern eher die besttherapierten. 

Bei den ehrgeizigen Reiter*innen kommt es darauf an, korrekte Hilfen zu geben, die vom Pferd ebenso korrekt befolgt werden müsse. Die Ausbildungsskala beginnt mit Seitengängen und der hohen Schule... Die meisten von ihnen bleiben irgendwann stecken, es geht nicht weiter, der Gaul will nicht mehr und wird krank. Womit diese Gruppe eine große Schnittmenge mit den anderen beiden Gruppen aufweist. 

Es gibt sicher noch viele weitere Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie diese Schnittmengen mit den oben genannten haben. 

Eine sehr eigene Gruppe mit wenigen Schnittmengen ist die der gesunden und belastbaren Pferde. Anstatt nun weiter die Abstrusitäten zu betrachten, schauen wir doch einfach mal, wodurch sich diese Gruppe auszeichnet: 

Diese Pferde bewegen sich viel im Gelände, auf unterschiedlichen Untergründen und können sich in allen Gangarten bergauf und bergab bewegen. Sie stolpern selten, haben eine gute und unempfindlich Sattellage und tragen ihre Reiter*innen sicher. Sie sind in der Lage, Geländehindernisse wie Gräben und Baumstämme, Bäche und Hänge zu überwinden. Notfalls kommen sie auch auf dem Reitplatz klar... 

Diese Pferde sind ausdauernd, belastbar, meistens recht zuverlässig, unternehmungsfreudig und vor allem selten krank. Sie sind irgendwie normal. 

Es ist ein Trugschluss, dass die Pferde das können, weil sie gesund sind. Sie sind gesund, weil sie das können und weil sie ihren eigenen Aufgabenbereich haben. 

Es gibt einen gangbaren Weg dorthin.

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