In synergetischen Prozessen lernen alle. Das ist das Begeisternde daran. Findet das synergetische Lernen online statt, beziehungsweise finden die individuellen Forschungsprozesse aus dem wirklichen Leben im Netz zusammen, wird die gemeinsame Sprache besonders wichtig.
Es zeigt sich auch in den aktuellen Kursen: Ein neues Erklärungsmodell für Bewegungszusammenhänge benötigt eine neue Sprache, mit der alles, was aus diesem Modell erwächst, auch möglichst genau beschrieben und vermittelt werden kann. Nach Möglichkeit sollte es sich um eine klare, präzise und verständliche Sprache handeln, die sich ohne Fachwissen erschließt.
Biotensegrität ist weder eine Therapie- noch eine Trainingsmethode. Das ist, denke ich, inzwischen
hinreichend bekannt.
Biotensegrität liefert das, was die orthodoxe hebelbasierte Biomechanik nie liefern konnte:
Ein Erklärungsmodell, das das gesunde Bewegungsempfinden so darstellt, dass es sich für Menschen mit einem solchen auch erschließt. Nun liegt es an der Sprache, diese Darstellung unverzerrt zu vermitteln.
Wenn sich nun Therapierende über Biotensegrität austauschen, benutzen sie verständlicherweise ihren eigenen Jargon, der sich bewährt hat und die Kommunikation mit denen vereinfacht, die die gleiche Sprache sprechen. Diese Sprache ist aber, wie ich inzwischen weiß, nicht einmal in den verschiedenen Schulen der manuellen Therapie (oder in den verschiedenen Reitweisen) die gleiche.
Zudem beziehen sich viele Beschreibungen oder Definitionen auf eine abstrakte Situation, die für Praktiker absolut unverständlich ist. Die Vereinfachung in der Betrachtung des Körpers ist in vielerlei Hinsicht sinnentstellend:
• Es wird ein geschlossenes Körperuniversum dargestellt, in dem der Körper, meistens im Stand, unabhängig von der Außenwelt betrachtet wird.
• Bewegung wird als Bewegung der Teile zueinander dargestellt.
• Das betrachtete Lebewesen erträgt, es hat keine Absicht, keinen Willen.
• Es fehlt die Unterscheidung zwischen Handeln und Geschehenlassen.
• Wird der Körper in Bezug zur Umwelt und den wirkenden Kräften betrachtet, dann als Opfer, als Objekt, auf das feindliche Kräfte wirken.
Das ist einer der Gründe, warum so viele bewegungskompetente Laien abwinken, wenn es um die Theorie geht. Das, was erklärt wird, steht in keinem erkennbaren Zusammenhang mit ihrer Erfahrungswelt (über die sie durchaus gerne sprechen würden). Ich habe viele intelligente, bewegungskompetente Geländereitende kennengelernt, die nach eigener Aussage "nichts verstehen", aber mit ihren gesunden Pferden alles machen/reiten. Und ich habe noch mehr Therapierende erlebt, die beim (Selbst-)Springen Angst um ihren Rücken und die Knie haben und für kein Geld der Welt treppab schwungvoll zwei Stufen gleichzeitig nehmen würden.
Deshalb stellt sich für mich die Frage, was die häufig enorme Diskrepanz zwischen dem therapeutischen Wissen und der eigenen aktiven, zielorientierten Bewegungskompetenz verursacht? Aus dieser Frage ergeben sich sofort die nächsten: Was machen die Therapeutensprache und der gewohnte oben beschriebene Bezugsrahmen mit dem Bewegungsverständnis? Werden Therapierende (und Trainer*innen) selbst zum Opfer des Systems, dessen Sprache sie lernen müssen? Eignet sich die allgemeine Therapeutensprache für die Ausbildung von bewegungskompetenten Laien?
Lassen die Sprache und die durch sie übermittelten Bewegungsvorstellungen überhaupt zu, beispielsweise bergab zu galoppieren? Lassen sie zu, die Treppe hinab zwei Stufen gleichzeitig zu nehmen?
Ein anderes Beispiel: RÜCKWÄRTS
Was impliziert das Wort "rückwärts" in Bezug auf die Teile eines sich bewegenden Lebewesens? Geht da überhaupt etwas zurück? WANN bewegt sich WAS in Bezug zu WAS?
Alle Körperteile bewegen sich im Verlauf einer konstanten Vorwärtsbewegung eines Lebewesens vorwärts. Immer. Das liegt an der eingebauten natürlichen Effizienz. Allerdings bewegen sie sich nicht immer gleich schnell oder auf der gleichen Achse. Wenn nun in der Vorwärtsbewegung ein Vorderbein des Pferdes durch Muskelarbeit zurück geführt wird, ist das eine mögliche Sichtweise des bekanntermaßen das Ergebnis verfälschenden Betrachters. Sie setzt voraus, dass das Pferd ausschließlich in Bezug zu sich selbst gesehen wird. Denn: In Bezug zum Boden bewegt sich in dieser Phase der Rest des Pferdes schneller als das Bein, in dem sich auch wieder die Teile im Verhältnis zum Boden unterschiedlich schnell vorwärts bewegen.
Das ist keine Erbsenzählerei, weil die unterschiedlichen Betrachtungsweisen eine sehr unterschiedliche Nutzung des myofaszialen Systems voraussetzen. Die Perspektive unseres Betrachters führt daher in der Bewegungspraxis unweigerlich in einen negativen Bewegungsablauf!
Mit Biotensegrität als Erklärungsmodell ergeben sehr viele geläufige Beschreibungen keinen Sinn mehr. Die Betrachter müssen die Perspektive wechseln, um einem Lebewesen gerecht zu werden, das eine Absicht verfolgt und sich in ständiger Interaktion mit den von außen wirkenden Kräften befindet.
Das ist eine Kollektivaufgabe, in der Nervensägen wie ich ebenso wichtig sind wie die Menschen mit dem jeweiligen Fachwissen. Als Nervensäge verfüge ich mit Sicherheit nur über einen Bruchteil dieses Fachwissens, habe aber einen eingebauten Blödsinnsdetektor, der Widersprüche zwischen Erklärung und Bewegungserfahrung sofort meldet.
Diskutieren bis zum Konsens...
...lautet die Devise. Bis die Beschreibung der Teile und der Abläufe dem Erleben entspricht und die Beschreibung des Erlebten die Anatomie und die wirkenden Kräfte korrekt wiedergibt. Bis die Beschreibung der absichtsvollen Interaktion des Lebewesens mit allen wirkenden Kräften gerecht wird.
Nur dann funktioniert die Kommunikation über die eigene Blase hinaus, nur dann ist ein sinnvoller und ergiebiger Austausch möglich.
TIPP: Euren ab Werk eingebauten Blödsinnsdetektor könnt ihr neu verdrahten. Damit er konsequent Blödsinn meldet anstatt euch mitzuteilen, dass ihr zu blöd seid.