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Jenseits von Meinung - Anatomie

Maren Diehl • 10. September 2022
Was ist eine feste Lende?

In der Augustausgabe der Pferdezeitschrift Natural Horse erschien ein Artikel über das Lumbosakralgelenk des Pferdes von Frau Welter-Böller. Dieser hat bei bei mir für eine derartige Irritation gesorgt, dass ich beschlossen habe, ihn detailliert zu rezensieren. 


Was hat meine Irritation ausgelöst? Die für mich wesentlichen Punkte:

  • An erster Stelle stehen die abwegigen Beschreibungen der Funktionsweise des Lumbosakralgelenks, die auf falschen Annahmen beruhen und mit den anatomischen Gegebenheiten nicht vereinbar sind.
  • Dass eine Zeitschrift wie die Natural Horse einen solchen Artikel veröffentlicht. So wird Anatomie zu einer Meinungsangelegenheit.
  • Die willkürliche Verwendung lateinischer Fachbegriffe. In einer für ambitionierte Laien gedachten Zeitschrift sollten die lateinischen Fachbegriffe zugunsten des allgemeinen Verständnisses möglichst durch bekannte Begriffe in deutscher Sprache ersetzt werden. 
  • Die lineare mechanistische Sichtweise, in der Einzelteile eine Bedeutung zugesprochen bekommen, die dem Ganzen nicht gerecht wird.
  • Das anscheinend völlige Fehlen grundlegender Kenntnisse der Biotensegrität und jeglichen Gefühls für hebelfreie Körperorganisation.

Und nun? Nun werde ich den Artikel Seite für Seite durchgehen und kommentieren. Die zitierten Begriffe und Erklärungen sind durch Anführungszeichen und Kursivschrift gekennzeichnet. 


TITELSEITE


Der Titel lautet "Das Lumbo-Sacral-Gelenk", mit der Unterzeile "Wichtig für die Aufrichtung im Pferdekörper".  


Was genau sich nun im Pferdekörper, vom Becken abgesehen, aufrichten soll, erschließt sich durch die Lektüre nicht.

Zum Lumbosakralgelenk heißt es bei Frau Welter-Böller: "...formt dessen Stellung im Raum die Kruppenform".


Das Lumbosakralgelenk hat nicht durch seine "Stellung im Raum" sondern durch die Art und Weise, in der es die Wirbelsäule mit dem Kreuzbein und damit auch mit Becken und Hinterbeinen verbindet, einen funktionellen, also veränderbaren Einfluss auf die individuelle Kruppenform. 

Die später im Artikel erwähnten rassetypischen Kruppenformen ergeben sich nicht aus der Winkelung oder Öffnung des Lumbosakralgelenks, sondern aus der rassetypischen Beckenform (insbesondere der Darmbeine und der Darmbeinschaufeln) sowie der Verbindung zwischen Becken und Kreuzbein.


SEITE  2

Das Lumbosakralgelenk ist eine gelenkige Verbindung zwischen Lendenwirbelsäule und Kreuzbein, dargestellt im Titelbild dieses Blogposts.

Die Funktionsweise des im Artikel von Frau Welter-Böller beschriebenen lumbosakralen Übergangs (LSÜ) ist abhängig vom Gebrauch, den das Pferd vom Lumbosakralgelenk macht. 

Frau Welter-Böller beschreibt erstaunlicherweise die "Nullstellung" des Lumbosakralgelenks anhand des Winkels, den die Oberlinie eines Warmbluts im Kruppenbereich zeigt.

Die "Nullstellung" des Lumbosakralgelenks (ich nenne das die neutral geschlossene Position) lässt sich jedoch nicht an der Oberlinie der Kruppe festmachen, auch nicht innerhalb einer Pferderasse, da es auch bei Warmblütern unterschiedliche Beckenformen gibt. In dieser Position (der "Nullstellung") ist das Lumbosakralgelenk nicht gebeugt, schon gar nicht 15 - 25 Grad wie im Artikel beschrieben. 

Wenn man die Winkelung des Lumbosakralgelenks darstellen möchte, sollte man die Unterlinie von Lendenwirbelsäule und Kreuzbein betrachten oder die Veränderung des Winkels, den die benachbarten Dornfortsätze des letzten Lendenwirbels und des Kreuzbeins zeigen.


Desweiteren erschließt sich die Bedeutung des Lumbosakralgelenks aus seiner Beweglichkeit und nicht, wie von Frau Welter-Böller beschrieben, die Beweglichkeit aus der Stärke der Bandscheibe.


SEITE 3

Die Rezension des therapeutischen Parts überlasse ich gerne Maike Knifka, die hier über die größere Fachkompetenz verfügt.

Frau Welter-Böllers Vorschlag, die Bauchmuskulatur isoliert zu stärken, halte ich jedoch nicht nur für therapeutisch fragwürdig, sonder auch unter dem Trainingsaspekt. Nach meinem Verständnis von funktionalen Zusammenhängen im Pferdekörper führt dieses Vorgehen unweigerlich in krank machende Bewegungsmuster. 


SEITE 4

Auf dieser Seite beschreibt Frau Welter-Böller die einseitige Öffnung des Lumbosakralgelenks. Wer jemals eine Pferdewirbelsäule mit Kreuzbein in der Hand hatte, wird gefühlt haben, dass aufgrund der Gesamtkonstruktion eine einseitige Öffnung des scharnierartigen Lumbosakralgelenks nicht möglich ist. 

Die Querfortsätze von Kreuzbein und letztem Lendenwirbel sind durch Gelenksflächen miteinander verbunden, was für eine enorme Stabilität sorgt, während die seitliche Führung durch die kleinen Schiebegelenke so eng ist, dass allein die Vorstellung einer einseitigen Öffnung des Lumbosakralgelenks schmerzhaft ist. 

Für eine bessere Vorstellung von den anatomischen Gegebenheiten lässt sich die einseitige Öffnung mit einer sich nur in einer Angel hängend bewegenden Tür vergleichen.


Die Aussage, dass das Lumbosakralgelenk sich in Bewegung einseitig öffnet, ist schlichtweg falsch.


Was möglich ist:

• In einer Schwebephase kann sich das Lumbosakralgelenk physiologisch öffnen, um sich im weiteren Bewegungsablauf bis zur Mitte der Stützbeinphase wieder zu schließen.

• Dies geschieht im Trab in einem Bewegungszyklus zwei Mal.


Was ihr beobachten könnt:

• Bei den meisten Pferden schließt sich das Lumbosakralgelenk nur in der Stützbeinphase eines Hinterbeines vollständig, während es auf dem anderen Hinterbein leicht geöffnet bleibt. 

• Oder es öffnet sich in der Schwebephase nur beim Vorschwingen eines Hinterbeines und bleibt beim Vorschwingen des anderen geschlossen.

• Beides ist beim Jungpferd zu Beginn der Ausbildung zum Reitpferd normal. 

• Bei fehlerhafter Ausbildung verstärkt sich die Asymmetrie der Bewegung und es verfestigt sich daraus das bekannte krankhafte Bewegungsmuster des Kurz-Lang-Tretens, wobei die Bewegung des Lumbosakralgelenks dennoch immer beidseitig stattfindet.


Die im Folgenden empfohlene Galopparbeit ermöglicht es dem Pferd allerdings, sich durchzumogeln, solange die Gangart nicht auf beiden Händen an merklichen Steigungen geritten wird oder fordernde Sprünge zum Training gehören.


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Hankenbeugung 

Die schwerwiegendste Fehlannahme (nicht nur von Frau Welter-Böller) in Bezug auf Hankenbeugung ist, dass es sich um höhere Weihen handelt, die das Pferd erst nach der Grundausbildung erhält. 

Funktionale Hankenbeugung bezeichnet die Beugung von Hüft- Knie- und Sprunggelenk unter Last, also in der Mitte der Stützbeinphase des Hinterbeines (und nicht, wie das Foto auf der letzten Seite des Artikels vermuten lässt, in der Mitte der Hangbeinphase). 

In freien Bewegungen mit neutral geschlossenem Lumbosakralgelenk findet diese Beugung unter Last ganz natürlich und unspektakulär immer statt, im Wechsel mit Streckung beim Abfußen, Beugung in der Hangbeinphase und Streckung zum Auffußungspunkt hin. Ebenfalls ganz natürlich ist eine momentane stärkere Beugung in Bewegungssituationen, die ein Zwischenspeichern von Bewegungsenergie erfordern.


Die "Hebelwirkung aus Kopf und Hals" zum Zwecke der Hankenbeugung ist in meinen Augen ein irreführendes Relikt aus den überholten mechanistischen Beschreibungen der hebelbasierten Bewegungsvorstellungen. 


Frau Welter-Böllers Beschreibung der idealen versammelten Bewegung als Verkürzung der zweiten Hälfte der Stützbeinphase (wörtlich sogar durch ihr Fehlen) durch Steilstellen des Beckens mit Hilfe des geraden Bauchmuskels ist in meinen Augen ein fachlicher Offenbarungseid. Damit ist das räumliche und zeitliche Gleichmaß der Bewegung zerstört, das eines der wesentlichsten Kriterien für gesunde Bewegungsabläufe ist. Bei den meisten Pferden, die mit dieser Idee gearbeitet werden, öffnet sich einfach das Lumbosakralgelenk, womit jede physiologische Kraftübertragung aus der Hinterhand unterbunden und die Vorhand fehlbelastet wird.


Wer nun die von Frau Welter-Böller vorgeschlagene Übung ausprobiert, mit angespannter Bauchmuskulatur und angehobenem Schambein zu laufen, wird feststellen, dass man so nicht mehr vorwärts kommt, nichts mehr tragen kann, keine Steigung mehr bewältigt, auf unebenen Grund unsicher wird, die gesamte Muskulatur festhält, sobald die Anforderungen steigen und dass man aussieht, als hätte man Bauchschmerzen. 


Genau das ist die Bewegung mit steil gestelltem Becken: Ein Hinweis auf Schmerzen und Unwohlsein, aber sicherlich kein erstrebenswertes Ziel.


Mit steil gestelltem Becken öffnet sich der Hüftgelenkswinkel, und sobald sich das Pferd in Bewegung befindet, hebt sich die Kruppe des Pferdes in der Mitte der Stützbeinphase. Antihankenbeugung ist das Ergebnis.


Um mit geöffnetem Lumbosakralgelenk die Kruppe im Verhältnis zur Vorhand zu senken, muss das Pferd  die Hinterbeine weit unter den Leib schieben, weshalb man die vermeintlich korrekte Hankenbeugung mit steil gestelltem Becken nur in der Piaffe oder dem "Schulhalt" zu sehen bekommt, während in der Vorwärtsbewegung unweigerlich die Kruppe in der Mitte der Stützbeinphase nach oben kommt. 


Das "Heranschließen  der Hinterhand" aus dem allgemeinen reiterlichen Sprachgebrauch öffnet in den meisten Fällen das Lumbosakralgelenk und stellt somit eine widersinnige Forderung dar, die krankmachende Bewegungsmuster erzeugt.


Zum guten Schluss postuliert Frau Welter-Böller die These, dass Hankenbeugung nur entstehen könne, "wenn das Becken mit den Bauchmuskeln vorn fixiert wird, sich dadurch die Hüfthöcker nach hinten oben drehen und das Sacrum in Kontranutation steht".  Vereinfacht gesagt: Die steile Beckenposition ist nach Frau Welter-Böller Voraussetzung für Versammlung.


Dass die beschriebene steile Beckenposition in die Antihankenbeugung führt, weil sich das Hüftgelenk streckt, versucht das Skelett auf den illustrierenden Fotos eindringlich zu vermitteln. Würde man es nach den beschriebenen Kriterien aufstellen,  würde es unweigerlich nach hinten umfallen, da das anatomische Wunderwerk des Stehapparates außer Kraft gesetzt würde.


Nach meinem Wissen hat Frau Welter-Böllers These das Potenzial, auf Jahrzehnte hinaus den sie vertretenden Schulen die Auftragsbücherzu füllen, weil sie Patienten produziert und keine Reitpferde.


Daher bleibe ich bei meiner These, dass echte Hankenbeugung und damit echte Versammlung in Bewegung nur mit unter Last neutral geschlossenem Lumbosakralgelenk möglich ist.


Wie geht es weiter?

Anatomie ist keine Meinung. Ein "Meinungsaustausch" wäre daher vermutlich nicht zielführend. 

Zielführend wäre eine Betrachtung dessen, was Pferde mit den jeweiligen Bewegungsmustern zu leisten in der Lage sind, wie gesund sie sind und ob sie alle Gangarten im Gelände bergauf wie bergab sicher gehen können. 


Weitere Informationen zum Thema finden sich auf meinem YouTube-Kanal 

und in meinem Shop.

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Wo liegt eigentlich euer Fokus, wenn ihr mit eurem Pferd zusammen seid oder mit einem Klientenpferd? Wie sieht euer Weg mit diesem Pferd aus? 

Habt ihr ein Bild davon, wie euer Pferd oder dieses Klientenpferd als starkes, gesundes und belastbares Pferd aussehen würde? Habt ihr eine Vorstellung von den Potenzialen eures Pferdes? Wisst ihr, was es leisten könnte und wollte? 

Ein sehr großer Teil der Pferde, die ich sehe, ist dauerhaft in Behandlung oder Reha, kaum belastbar, und es haben sich ganze Ausbildungssysteme für kleinschrittige Bewegungsoptimierung entwickelt. Diese werden inzwischen leider auch auf die Ausbildung junger Pferde angewandt, die als erstes lernen müssen, so zu laufen wie das kaputte Rehapferd, das keinen Schritt neben der Spur machen darf. 

Ein kleiner Teil der Reiter und Pferde hat das Zeug für den großen Sport, wobei die meisten dieser Pferde ihr Niveau nur durch intensive Betreuung und Behandlung eine Zeit lang halten können. Das sind also nicht zwangsläufig die belastbarsten Pferde, sondern eher die besttherapierten. 

Bei den ehrgeizigen Reiter*innen kommt es darauf an, korrekte Hilfen zu geben, die vom Pferd ebenso korrekt befolgt werden müsse. Die Ausbildungsskala beginnt mit Seitengängen und der hohen Schule... Die meisten von ihnen bleiben irgendwann stecken, es geht nicht weiter, der Gaul will nicht mehr und wird krank. Womit diese Gruppe eine große Schnittmenge mit den anderen beiden Gruppen aufweist. 

Es gibt sicher noch viele weitere Gruppen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie diese Schnittmengen mit den oben genannten haben. 

Eine sehr eigene Gruppe mit wenigen Schnittmengen ist die der gesunden und belastbaren Pferde. Anstatt nun weiter die Abstrusitäten zu betrachten, schauen wir doch einfach mal, wodurch sich diese Gruppe auszeichnet: 

Diese Pferde bewegen sich viel im Gelände, auf unterschiedlichen Untergründen und können sich in allen Gangarten bergauf und bergab bewegen. Sie stolpern selten, haben eine gute und unempfindlich Sattellage und tragen ihre Reiter*innen sicher. Sie sind in der Lage, Geländehindernisse wie Gräben und Baumstämme, Bäche und Hänge zu überwinden. Notfalls kommen sie auch auf dem Reitplatz klar... 

Diese Pferde sind ausdauernd, belastbar, meistens recht zuverlässig, unternehmungsfreudig und vor allem selten krank. Sie sind irgendwie normal. 

Es ist ein Trugschluss, dass die Pferde das können, weil sie gesund sind. Sie sind gesund, weil sie das können und weil sie ihren eigenen Aufgabenbereich haben. 

Es gibt einen gangbaren Weg dorthin.

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