Anekdotische Evidenz

Maren Diehl • 26. März 2025
Biotensegrity - Running wild

Neulich ist mir seit langem mal wieder eines dieser typischen Pferdemagazine in die Hände gefallen. Ihr wisst schon – die Sorte, bei der auf dem Cover wahlweise „Leichtfüßig durch den Frühling“ oder „So erkennen Sie, ob Ihr Pferd ein Herzenspferd ist“ steht. Irgendwo auf Seite 17 las ich dann den Satz:

„Unsere Methode beruht auf neuester evidenzbasierter Forschung.“

Klingt super. Seriös. Wissenschaftlich. Dennoch googelte ich zur Sicherheit nochmal die genaue Definition von Evidenz. Drei Stunden später hatte ich 17 Tabs offen, war tief in einem Wikipedia-Wurmloch verschwunden und versuchte, mir zwischen Philosophie und Statistik einen Reim darauf zu machen, warum das Wort Evidenz offenbar zwei völlig gegensätzliche Bedeutungen haben kann – und warum sich WissenschaftlerInnen und PhilosophInnen darüber vor allem anzuschweigen scheinen.

Es ist eine merkwürdige Geschichte mit der Evidenz:

  • „Evidenz bezeichnet in der Philosophie das aufgrund von Augenschein oder zwingender Schlussfolgerung unzweifelhaft Erkennbare oder die dadurch erreichte unmittelbare Einsicht. Eine aufgrund von Evidenz gewonnene Gewissheit wird als Selbstverständlichkeit empfunden, für die es keiner Beweisführung bedarf. [...] Das Adjektiv “evident” wird im Sinne von „offensichtlich“ auch außerhalb der Philosophie in beliebigen Kontexten verwendet.“
  •  „Ausgehend von englisch evidence hat sich in jüngerer Zeit eine andere, fast gegensätzliche Wortbedeutung etabliert: Evidenz als Bezeichnung für empirische Nachweise in der Wissenschaft.”
  • „Evidenz ist der wissenschaftliche Beweis aus gut durchgeführten, qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Studien, die sorgfältig konzipiert wurden, um bestimmte Fragen zu beantworten.“

Wir haben es also mit zwei grundsätzlich unterschiedlichen Perspektiven zu tun:


 1. Die philosophische Perspektive, die im Grunde sagt:
„Evidenz ist das, was so offenkundig wahr ist, dass du es entweder sofort siehst – oder nach einem langen inneren Kampf gegen deine eigenen Argumente und Glaubenssätze endlich anerkennen musst.“

2. Die wissenschaftliche Perspektive, die eher klingt wie:
„Evidenz ist das, was nach einer absurd langen und komplizierten Abfolge von Experimenten, Statistiken und Peer-Reviews mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % nicht kompletter Unsinn ist.“

Der Begriff anekdotische Evidenz wird hingegen meist eher abfällig benutzt – und bezieht sich dabei nicht nur auf Hörensagen oder eine Einzelfallstudie, sondern auch auf Erfahrungen oder Ergebnisse außerhalb kontrollierter Umgebungen, also anders gesagt: auf das echte Leben.

Wenn wir uns viele Pferde verschiedener Rassen, Altersgruppen und Geschlechter mit unterschiedlichen Befunden, Krankengeschichten und Symptomen ansehen, die auf verschiedenen Böden in unterschiedlichen Umgebungen leben, haben wir es mit einer unkontrollierten unkontrollierbaren Situation zu tun, die man gemeinhin das wahre Leben nennt.

Wenn wir einige Prinzipien, einige Voraussetzungen von grundlegender Bedeutung finden, deren Anwendung es all diesen oben genannten sehr unterschiedlichen Pferden ermöglicht, gesunde, physisch und psychisch stabile, kompetente Reitpferde zu werden, dann geht diese Evidenz weit über eine Einzelfallstudie oder eine zufällige Beobachtung hinaus. Und wenn sich bei mindestens 80 % dieser Pferde langfristig etwas verbessert, ganz ohne weitere Therapie, dann ist der kausale Zusammenhang … offensichtlich.

Mein Arbeitsplatz ist seit vielen Jahren genau diese unkontrollierbare Situation – und ich verfüge über umfangreiche „anekdotische Evidenz“. Überraschenderweise sind die Ergebnisse gut wiederholbar, trotz oder wegen der unkontrollierbaren Umgebung.

Das Gegenteil zu meinem Versuchsaufbau wäre eine wissenschaftlich perfekt designte Studie mit 100 Pferden, die alle ganz ähnliche Symptome zeigen. Innerhalb dieser Studie sucht man nach Wegen, die Symptome zu reduzieren – und findet vielleicht 20 geeignete Möglichkeiten. Doch wenn zwei Wochen nach Studienende bei 80 % der Pferde die Symptome zurückkehren, haben wir nur 20 Möglichkeiten gefunden, vorübergehend Symptome zu unterdrücken.

Und wir hätten – im besten Fall – gelernt, wie sich diese 20 Ansätze unter Laborbedingungen verhalten. Aber nicht, wie diesen Pferden in ihrer Lebensrealität geholfen werden kann.

Die Relevanz wissenschaftlicher Erkenntnisse hängt stark davon ab, welche Fragen gestellt wurden, wie "normal" definiert wird, und welche Kompromisse für Studien-Design und Machbarkeit eingegangen werden. Vereinfachung ist oft notwendig – aber sie schafft Realitätsferne.

Wir dürfen also die Evidenz wissenschaftlicher Studien genauso hinterfragen wie unsere eigenen Erfahrungen – und vor allem unsere Erklärungen. Wenn man bei 100 nahezu identischen Pferden mit ähnlichen Pathologien 10 verschiedene Faktoren identifiziert, die ihnen irgendwie schaden, weiß man immer noch nicht, was ihnen hilft.

Aber wenn 100 unterschiedliche Pferde mit individuellen Kombinationen von Pathologien durch ein paar wenige, immer gleiche Prinzipien dauerhaft zu leistungsfähigen Reit- oder Fahrpferden werden können – dann haben wir vermutlich etwas Nützliches gefunden.

Das Problem : Wenn wir auf wissenschaftliche Beweise aus gut durchgeführten, hochwertigen und sorgfältig konzipierten Studien warten, dann haben unzählige Pferde längst den letzten Weg zum Schlachter angetreten, bevor ein wissenschaftlich anerkanntes, hilfreiches Konzept zur Verfügung steht.

Deshalb scheint mir für diese Pferde eine andere Entscheidung sinnvoll: Es einfach mal mit dem Offensichtlichen zu versuchen und dem Motto der Bremer Stadtmusikanten zu folgen:
„Wohlan, Freunde, etwas Besseres als den Tod finden wir überall!“

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